Seit dieses Gedicht von Czesław Miłosz 1943 geschrieben wurde, angesichts des Aufstandes von Juden im Warschauer Ghetto, vier Jahrhunderte nach dem geistigen Aufstand Giordano Brunos und dessen Tod im Feuer der Inquisition, tobt in Polen eine teils verdeckt, teils offen geführte Auseinandersetzung.
Dabei geht es um Deutungshoheit in der polnischen Nationalgeschichte, um unabhängiges Denken und um das unumstößliche Recht auf Selbstbehauptung. Schlichtere Gemüter leugnen einfach die Existenz des Rummelplatzes auf dem Krasiński-Platz vor den Ghettomauern zu einer Zeit, da jüdisches Pesach und katholische Karwoche, Alltag und Aufstand sich zeitlich kreuzten – das Karussell sei des Dichters Erfindung, es habe niemals und schon gar nicht zu jener Zeit und überhaupt nicht an diesem Ort gestanden. Das zu behaupten, beschmutze das polnische Nest, tönen andere. Vor allem geht den einen wie den anderen des Dichters Vision gegen den Strich, dass Menschen sich wieder und wieder gegen klerikale Dogmen, gegen menschen- und menschheitsfeindliche Zustände auflehnen. Der Dichter, er lebte zu jener Zeit in Warschau und hat am Widerstand teilgenommen, hat das Karussell gesehen. Haben es auch andere gesehen?
Leszek Kołakowski, Jahrgang 1927, lebte in Warschau, sein Vater wurde im Mai 1943 im Gestapogefängnis Pawiak ermordet. Der Philosoph lehrt, nach dem Schandmärz 1968 aus Polen weggeekelt, heute unter anderem in Oxford. Die Erinnerung des Wissenschaftlers: „Ich sah den Aufstand lediglich von außen. Fuhr man von Żoliborz zur Stadtmitte, fuhr die Straßenbahn nicht durchs Ghetto. Ich fuhr entlang der Ghettomauern, man sah den aufsteigenden Rauch und hörte Schüsse, aber innerhalb der Mauern war ich nicht. Ich erinnere mich noch an das Karussell auf dem Krasiński-Platz, von dem in Miłoszs Gedicht Campo di Fiori die Rede ist. Irgend jemand behauptet, daß Miłosz diesbezüglich phantasiert, dort nie ein Karussell gestanden habe. Aber ich war da, habe es mit meinen Augen gesehen. Leute fuhren Karussell und hatten ihren Spaß daran, und es war unweit der Ghettomauer, In der Luft wirbelten versengte Kleiderfetzen, und niemand schenkte dem besondere Aufmerksamkeit. Natürlich wussten die Leute, dass im Ghetto ein Aufstand ausgebrochen war, und die Kreise, in denen ich lebte, hatten natürlich Sympathien für die Aufständischen, aber die waren nicht Allgemeingut.“ (Leszek Kołakowski: Czas ciekawy, czas spokojny. [Spannende Zeiten, ruhige Zeiten].Znak.Kraków. 2007.) Auch der Historiker Feliks Tych sah als 13jähriger bei seinen Streifzügen durch die Stadt das Karussell, hörte die Rummelmusik und wie Gleichgültige äußerten: „Die Juden brennen.“ Er überlebte den Völkermord, aufgenommen von einer Lehrerfamilie, als einer von 40 000 jüdischen Menschen, die unter allgegenwärtiger Todesdrohung von Polen gerettet wurden.
Gerd Kaiser
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